10/06/2016 04:24
Pet 3-18-17-2165-013004
Kinder- und Jugendhilfe
Der Deutsche Bundestag hat die Petition am 02.06.2016 abschließend beraten und
beschlossen:
Das Petitionsverfahren abzuschließen, weil dem Anliegen nicht entsprochen werden
konnte.
Begründung
Mit der Petition wird gefordert, dass die Rechtsgrundlage für die Regelung der
Kostenbeteiligung junger Menschen mit eigenem Einkommen, die vollstationäre
Leistungen beziehen, aufgehoben wird.
Im Wesentlichen wird kritisiert, dass die Regelung in § 94 Abs. 6 Achtes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VIII), wonach ein junger Mensch 75 Prozent seines erzielten
Einkommens als Kostenbeitrag für eine in Anspruch genommene vollstationäre
Betreuung einzusetzen hat, dem Ziel des SGB VIII, junge Menschen in ihrer
Entwicklung zu selbstständigen Erwachsenen zu fördern, zuwiderlaufe. Da die jetzige
Rechtslage vorsehe, dass jungen Menschen in vollstationärer Betreuung nur ein
Viertel ihres Einkommens verbleiben solle, würden diejenigen Jugendlichen „bestraft“,
die durch Aufnahme einer Tätigkeit die Grundlage für ihr eigenes künftiges Leben
legen. Daher müsse auf die Kostenbeteiligung junger Menschen, die sich in
vollstationärer Betreuung befinden, gänzlich verzichtet oder aber deren
Kostenbeteiligung wenigstens erheblich beschränkt wird.
Die Eingabe war als öffentliche Petition auf der Internetseite des Deutschen
Bundestages eingestellt. Es gingen 58 Mitzeichnungen sowie 7 Diskussionsbeiträge
ein. Der Petitionsausschuss hat eine weitere Petition mit einem vergleichbaren
Anliegen erhalten, die mit der vorliegenden Petition gemeinsam behandelt wird. Es
wird um Verständnis dafür gebeten, falls nicht alle vorgetragenen Gesichtspunkte
dargestellt wurden. Der Petitionsausschuss hat der Bundesregierung Gelegenheit
gegeben, ihre Ansicht zu der Eingabe darzulegen. Das Ergebnis der
parlamentarischen Prüfung lässt sich unter Einbeziehung der seitens der
Bundesregierung angeführten Aspekte wie folgt zusammenfassen:
§ 94 Abs. 6 SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, regelt, dass junge Menschen für die
Inanspruchnahme vollstationärer Leistungen 75 Prozent ihres Einkommens als
Kostenbeitrag einzusetzen haben. Gemäß § 7 Abs. 1 SGB VIII ist Jugendlicher, wer
14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht
27 Jahre alt ist und junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist.
Der Begriff „vollstationäre Leistungen“ wird vom Gesetzgeber des SGB VIII nicht
definiert. Nach der Rechtsprechung gehören zu den vollstationären Leistungen die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die außerhalb des Elternhauses in einer
Einrichtung oder sonstigen betreuten Wohnform oder bei Pflegepersonen über Tag
und Nacht geleistet werden und die daher die Gewährung von Unterkunft in die
Leistung miteinbeziehen. Unbeachtlich ist, wie die Gewährung von Unterkunft
ausgestaltet ist. Die Unterkunft kann in einer Einrichtung oder in einem familiären
Umfeld mit durchgehender Betreuung gewährt werden, aber auch in einer separaten
Wohnung. Im Fall einer separaten Wohnung dient die Intensität der
sozialpädagogischen Betreuung als Abgrenzungskriterium zwischen einer ambulanten
und einer vollstationären Leistung. Wird die Hilfe allerdings außerhalb einer
Einrichtung und in der eigenen Wohnung des jungen Menschen geleistet, so kann
diese nur als vollstationär bewertet werden, wenn die Betreuung des jungen Menschen
wie in einer Einrichtung lückenlos und durchgehend über Tag und Nacht erfolgt (vgl.
Verwaltungsgericht Köln, VG Köln v. 06.05.2010 - 26 K 6023/09). Der Annahme einer
vollstationären Leistungserbringung steht es nicht entgegen, wenn der junge Mensch
außerhalb seines Elternhauses nur für einen Teil der Woche untergebracht ist (vgl.
Bundesverwaltungsgericht, BVerwG vom 29.12.1998, 5 C 23.97). Dies hat lediglich
Auswirkungen auf die Höhe des Kostenbeitrags nach § 94 SGB VIII.
§ 91 Abs. 1 SGB VIII enthält den abschließenden Katalog der kostenbeitragspflichtigen
vollstationären Leistungen. Dies sind im Einzelnen beispielsweise die Unterkunft
junger Menschen in einer sozialpädagogisch begleiteten Wohnform (§ 13 Abs. 3
SGB VIII), die Betreuung von Müttern oder Vätern und Kindern in gemeinsamen
Wohnformen (§ 19 SGB VIII), die Betreuung und Versorgung von Kindern in
Notsituationen (§ 20 SGB VIII) sowie die Unterstützung bei notwendiger Unterbringung
junger Menschen zur Erfüllung der Schulpflicht und zum Abschluss der
Schulausbildung (§ 21 SGB VIII).
§ 94 Abs. 1 Satz 3 und 4 SGB VIII regelt die Rangfolge der Kostenbeitragspflichtigen.
Danach sind die jungen Menschen als Leistungsempfänger vorrangig zu den Kosten
der vollstationären Betreuung heranzuziehen. Es folgen deren Ehegatten und
Lebenspartner. Eltern können erst nachrangig in Anspruch genommen werden.
Hintergrund dieser Rangfolge sind unterhaltsrechtliche Vorschriften des Zivilrechts.
Nach § 1602 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) trifft die Eltern eine Verpflichtung
zur Tragung des Unterhalts für ihre Kinder nur, wenn diese außerstande sind, sich
selbst zu unterhalten bzw. wenn der Unterhalt nicht durch Ehegatten bzw.
Lebenspartner sichergestellt werden kann (§ 1608 BGB).
Während unterhaltspflichtige Angehörige nur in angemessenem Umfang aus ihrem
Einkommen zu den Kosten der vollstationären Betreuung heranzuziehen sind (§ 94
Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), gilt für die Heranziehung der jungen Menschen, dass sie nach
dem pauschalierten Abzug der Belastungen nach § 93 Abs. 3 SGB VIII ihr Einkommen
in vollem Umfang als Kostenbeitrag einzusetzen haben. Abzuziehende Belastungen
im Sinne des § 93 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII sind insbesondere Beiträge zu öffentlichen
oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen, die mit der Erzielung des
Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben sowie Schuldverpflichtungen.
Die Kostenheranziehung junger Menschen ist dadurch gerechtfertigt, dass gemäß
§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe
während der stationären Betreuung des jungen Menschen sowohl für dessen
notwendigen Unterhalt als auch für dessen Krankenhilfe aufkommt. Gemäß § 39
Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst der notwendige Unterhalt die Kosten für den
Sachaufwand sowie für die Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen und
damit die Kosten für den gesamten Bedarf des täglichen Lebens wie Unterkunft,
Ernährung, Kleidung, Hygieneartikel sowie Fahrtkosten und Arbeitskleidung.
In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass vollstationäre
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber Leistungen unterhaltspflichtiger
Personen nachrangig sind (vgl. § 10 Abs. 2 SGB VIII). Gemäß § 91 Abs. 5 SGB VIII
ist der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen der Gewährung
vollstationärer Leistungen aber vorleistungspflichtig, d.h. dass er zunächst für die
gesamten Kosten der vollstationären Leistung aufkommen muss, ohne das
Einkommen des leistungsberechtigten jungen Menschen oder seiner
unterhaltsverpflichteten Angehörigen zu berücksichtigen. Die Nachrangigkeit der
Kinder- und Jugendhilfe wird erst dadurch wiederhergestellt, dass der
leistungsberechtigte junge Mensch oder seine unterhaltsverpflichteten Angehörigen
gegebenenfalls an den Kosten zu beteiligen sind.
Die Regelung des § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII, die dem jungen Menschen 25 Prozent
seines Nettoeinkommens während seiner vollstationären Unterbringung zur freien
Verfügung belässt – in dieser Zeit wird sein Lebensunterhalt durch den zuständigen
Träger der öffentlichen Jugendhilfe sichergestellt – bezweckt somit zum einen, dem
jungen Menschen einen Anreiz zu geben, seine Erwerbstätigkeit fortzusetzen, zum
anderen aber auch, der Nachrangigkeit der Kinder- und Jugendhilfe Rechnung zu
tragen.
Durch das Gesetz zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder und Jugendhilfe
(Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz – KJVVG) vom 29. August
2013 wurde durch Einfügung der Sätze 2 und 3 in § 94 Abs. 6 SGB VIII für die
Jugendämter die Möglichkeit geschaffen, unter bestimmten Voraussetzungen von
einer Heranziehung junger Menschen zu einem Kostenbeitrag abzusehen bzw. diesen
zu ermäßigen. So bestimmt § 94 Abs. 6 Satz 2 und 3 SGB VIII: „Es kann ein geringerer
Kostenbeitrag erhoben oder gänzlich von der Erhebung des Kostenbeitrags
abgesehen werden, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, die dem Zweck
der Leistung dient. Dies gilt insbesondere, wenn es sich um eine Tätigkeit im sozialen
oder kulturellen Bereich handelt, bei der nicht die Erwerbstätigkeit, sondern das soziale
oder kulturelle Engagement im Vordergrund stehen.“
Die alte Rechtslage ermöglichte es den Jugendämtern gem. § 92 Abs. 5 SGB VIII nur,
von der Heranziehung junger Menschen abzusehen, wenn sonst Ziel und Zweck der
vollstationären Leistung gefährdet waren oder sich aus der Heranziehung eine
besondere Härte ergab. Die neue Regelung in § 94 Abs. 6 Satz 2 und 3 SGB VIII sieht
vor, dass Jugendämter im Rahmen ihres Ermessens darüber zu entscheiden haben,
ob und in welcher Höhe bei jungen Menschen in vollstationärer Betreuung von der
Kostenheranziehung aus eigenem Einkommen abzusehen ist. Voraussetzung ist,
dass sie das Einkommen im Rahmen einer Tätigkeit erworben haben, die im
besonderen Maße dem Zweck der Jugendhilfeleistung dient (zum Beispiel der
Übernahme von Eigenverantwortung, dem Erwerb sozialer Kompetenzen oder der
Verselbständigung). Dies ist gemäß § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII insbesondere bei
Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten oder Honoraren für
Tätigkeiten im sozialen oder kulturellen Bereich der Fall, bei denen nicht die
Erwerbstätigkeit, sondern vielmehr das soziale und kulturelle Engagement im
Vordergrund stehen. Aus § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII lässt sich aber nicht der
Rückschluss ziehen, dass eine Ausnahmeregelung immer dann nicht vorliegt, wenn
es sich um eine Tätigkeit handelt, bei der die Erwerbstätigkeit im Vordergrund steht.
Die vom Gesetz in § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII benannten Regelbeispiele sind nicht
die einzigen Konstellationen, die eine Ausnahme von der Kostenbeteiligung
ermöglichen. Vielmehr sind weitere Sachverhalte denkbar, die eine Ausnahme
rechtfertigen. Daher prüfen die Jugendämter in jedem Einzelfall unter Beachtung aller
Umstände, ob und in welcher Höhe eine Ausnahme von der in § 94 Abs. 6 Satz 1
SGB VIII geregelte Kostenheranziehung gemacht werden kann.
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass leistungsberechtigten jungen Menschen
und unterhaltsverpflichteten Angehörigen, die behaupten, durch den Träger der
öffentlichen Jugendhilfe in ihren Rechten verletzt worden zu sein, der Rechtsweg zu
den Verwaltungsgerichten offen steht.
Aufgrund der vorangegangenen grundlegenden Ausführungen sieht der
Petitionsausschuss keinen Anlass für eine Änderung der geltenden Rechtslage. Daher
empfiehlt er, das Petitionsverfahren abzuschließen, weil dem Anliegen des Petenten
nicht entsprochen werden konnte.
Begründung (pdf)