03/03/2017 3:22
Pet 3-18-11-8280-008788
Berufskrankheiten
Der Deutsche Bundestag hat die Petition am 16.02.2017 abschließend beraten und
beschlossen:
Das Petitionsverfahren abzuschließen, weil dem Anliegen nicht entsprochen werden
konnte.
Begründung
Mit der Petition soll erreicht werden, dass die Stichtagsregelung bei Berufskrankheiten
abgeschafft wird.
Der Petent legt im Einzelnen dar, dass bei den vier zum 1. Juli 2009 neu in die
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) aufgenommenen Berufskrankheiten (nach der
Nr. 2112, 4113, 4114 und 4115) Stichtagsregelungen gelten würden, die zu
Benachteiligungen bei den Betroffenen führten. Da Unfälle und Krankheiten nicht plan-
und steuerbar seien, machten diese zeitlichen Begrenzungen keinen Sinn. Die
Betroffenen, die vor dem Stichtag erkrankt seien, würden benachteiligt, da sie keinen
Rechtsanspruch auf Leistungen hätten. Berufskrankheiten ließen sich aber nicht in ein
Zeitfenster pressen. Hier gebe es dringenden Handlungsbedarf, die Stichtagsregelung
wieder aufzuheben.
Zu dieser als öffentliche Petition zugelassenen Eingabe sind 13 Diskussionsbeiträge
und 141 Mitzeichnungen eingegangen. Die Diskussion im Internet verlief kontrovers.
Der Petitionsausschuss hat zu dem Anliegen eine Stellungnahme des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eingeholt. Unter Berücksichtigung der
Stellungnahme sieht das Ergebnis der parlamentarischen Prüfung folgendermaßen
aus:
Der Petent hatte sich auf die 2. Berufskrankheiten-Änderungsverordnung vom 1. Juli
2009 bezogen und für die zu diesem Zeitpunkt neu in die Berufskrankheiten-Liste
eingeführten Berufskrankheiten den Wegfall der Stichtagsklausel gefordert. Es handelt
sich dabei um die Krankheiten Gonarthrose (Nr. 2112), Lungenkrebs durch
polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (Nr. 4113), Synkanzerogenese
(Nr. 4114) und Siderofibrose (Nr. 4115).
Zunächst weist der Petitionsausschuss darauf hin, dass in der inzwischen (zum
1. Januar 2015) in Kraft getretenen 3. Berufskrankheiten-Änderungsverordnung
wiederum vier Krankheiten neu in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen wurden,
dieses Mal jedoch auf eine Stichtagsregelung verzichtet wurde. Bei diesen neuen
Berufskrankheiten kommt es nicht darauf an, ob die Erkrankung bereits längere Zeit
vor dem Inkrafttreten der Verordnung oder erst danach eingetreten ist. Es handelt sich
dabei um die Berufskrankheiten nach der Nr. 1319 (Larynxkarzinom durch Aerosole),
der Nr. 2113 (Carpaltunnelsyndrom), der Nr. 2114 (Hypothenar-Hammer-Syndrom)
und der Nr. 5103 (Plattenepithelkarzinom und Keratosen durch UV-Strahlung). Hier
wurde dem Anliegen des Petenten also bereits entsprochen.
Im Gegensatz dazu bleiben die Stichtagsklauseln für die neu aufgenommenen
Berufskrankheiten der 2. Berufskrankheiten-Änderungsverordnung unverändert
bestehen und wurden auch gerichtlich bestätigt, und zwar sowohl vom
Bundesverfassungsgericht (zuletzt BVerfG Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR
3144/06 m. w. N.) als auch vom Bundessozialgericht (zuletzt BSG-Urteil vom 27. Juni
2006 – B 2 U 5/05 R. m. w. N.).
Das Bundesverfassungsgericht hatte in dem Urteil von 2007 ausgeführt, dass nach
ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Entstehung und Fortbestand
sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Recht zu beurteilen sind, das zur Zeit der
anspruchsbegründenden Ereignisse und Umstände gegolten hat, soweit nicht später
in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt. Eine
Erstreckung auf frühere Fälle sei daher nur durch eine ausdrückliche
Rückwirkungsklausel möglich.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich der Stichtag 30. September 2002 für die
Berufskrankheiten nach den Nummern 2112, 4114 und 4115 durch die letzte
Verordnung zur Änderung der BKV vom 5. September 2002, die am 1. Oktober 2002
in Kraft trat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die erforderlichen medizinisch-
wissenschaftlichen Erkenntnisse zuvor noch nicht vorgelegen haben. Vielmehr hatte
der Ärztliche Sachverständigenrat erst im September 2004 (für Nr. 2112 -
Gonarthrose), im Dezember 2005 (für Nr. 4115 - Siderofibrose) beziehungsweise im
November 2006 (für Nr. 4114 - Synkanzerogenese) aufgrund der neusten
medizinischen Erkenntnisse empfohlen, diese Krankheiten in die Liste der
Berufskrankheiten aufzunehmen. Der Stichtag 30. September 2002 ergibt sich somit
aus dem Tag des Inkrafttretens der letzten Verordnung zur Änderung der BKV am
1. Oktober 2002.
Für die Berufskrankheit nach der Nr. 4113 (Lungenkrebs durch polyzyklische
aromatische Kohlenwasserstoffe) ist hingegen die BKV vom 31. Oktober 1997
maßgebend. Der Ärztliche Sachverständigenrat hatte im November 1997 empfohlen,
diese Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten aufzunehmen. Die erforderlichen
medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse lagen somit nicht früher vor, so dass sich
der Stichtag 30. November 1997 aus dem Tag des Inkrafttretens der (damals) neuen
Verordnung am 1. Dezember 1997 ergab.
Das Bundesverfassungsgericht hat in dem genannten Urteil von 2007 ausdrücklich die
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bestätigt, wonach es Sache des
Vorordnungsgebers ist, ab welchem Zeitpunkt eine Krankheit als Berufskrankheit
anerkannt wird. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht es auch für
verfassungsgemäß erklärt, dass Versicherungsfälle nicht entschädigt werden, die
v o r einem vom Verordnungsgeber gewählten Stichtag eingetreten sind. Die vom
Petenten vermutete Grundrechtsverletzung in diesen Fällen liegt also nicht vor.
Dessen ungeachtet kann der Verordnungsgeber sich - ohne Verstoß gegen die
Verfassung - in einer späteren Änderungsverordnung f ü r eine Rückwirkungsregelung
ohne Stichtag entscheiden. Die Rechtsprechung hat auch in diesem Sinne in jüngerer
Zeit die Wirksamkeit von Stichtagsregelungen eingeschränkt. So hat das
Bundessozialgericht 2008 entschieden, dass alle vor dem Inkrafttreten einer
Änderungsverordnung angezeigten Fälle als so genannte „Wie-Berufskrankheiten“
zeitlich uneingeschränkt anzuerkennen sind (BSG, Urteil vom
2. Dezember 2008 – B 2 KN 1/08 U R).
Dies ist jedoch ein anderer Weg, die Wirksamkeit von Stichtagsregelungen
einzuschränken, und Konsequenzen für die Stichtagsregelung in der vom Petenten
angesprochenen Änderungsverordnung von 2009 (mit den genannten vier
Berufskrankheiten) lassen sich hieraus nicht ableiten.
Der Petitionsausschuss macht weiterhin darauf aufmerksam, dass bei einer
nachträglichen Änderung der Stichtagsregelung, wie vom Petenten gewünscht, eine
Begrenzung auf die Verordnung von 2009 nicht möglich wäre. Vielmehr müssten auch
die vorangegangenen Verordnungen einbezogen werden. Damit würden in einem
immer größer werdenden Ausmaß Schwierigkeiten bei der Ermittlung der
möglicherweise Jahrzehnte zurückliegenden Versicherungsfälle auftreten. Dies würde
zu einem enormen Verwaltungsaufwand führen, der jedoch in vielen Fällen wegen
nicht mehr zu klärender Sachverhalte dennoch zur Ablehnung von Anerkennungen
führen würde.
Der Petitionsausschuss vermag vor diesem Hintergrund das Anliegen nicht zu
unterstützen, zumal die Möglichkeit der Anerkennung als „Wie-Berufskrankheit“ seit
2008 die Wirksamkeit von Stichtagsregelungen bereits deutlich einschränkt.
Der Petitionsausschuss empfiehlt daher, das Petitionsverfahren abzuschließen, weil
dem Anliegen nicht entsprochen werden konnte.
Begründung (PDF)