Petitsioon on adresseeritud:
Oberbürgermeister Marcus König
Lieber Marcus König,
wir Nürnberger Eltern sehen mit Sorge, dass von Ihnen in Zeiten von wieder steigenden Infektionszahlen verlangt wird, unabhängig von hohen Inzidenzzahlen die Nürnberger Schulen für Schüler*innen offen zu halten und auf den sicheren Distanzunterricht zu verzichten. Eine solche Forderung führt unweigerlich zu noch mehr Infektionen in der Stadt und verlängert damit die Pandemie und die belastende Situation für unsere Familien.
Daher richte ich heute den Appell an Sie: Bleiben Sie bei Ihrer verantwortungsvollen Politik und stellen Sie den Gesundheitsschutz für unserer Kinder in Nürnberg weiterhin an die erste Stelle. Lassen Sie keine Experimente mit offenen Schulen bei hoher Inzidenz in unserer Stadt zu. Lassen Sie uns stattdessen gemeinsam den Distanzunterricht weiter verbessern, den der überwiegende Teil der Nürnberger Eltern im Augenblick für alternativlos hält.
Oberstes Ziel muss es sein, in der Stadt Nürnberg die Inzidenz deutlich zu senken, also Infektionen weitgehend zu verhindern. Distanzunterricht hat sich als das effektivste Mittel erwiesen dieses Ziel in Nürnberg zu erreichen, da er die Mobilität und Kontaktzahl in der Stadt stark senkt. In Welle 1 und 2 gelang es in Nürnberg nur die Inzidenzen in der Stadt überhaupt zu senken, wenn es auch Distanzunterricht an den Nürnberger Schulen gab. Bei sehr niedrigen Inzidenzen im Sommer 2020 waren offene Schulen bei AHA+L auch in Nürnberg gefahrlos möglich.
Helfen Sie dabei besonders den Ein-Elternteil-Familien und Familien, die in Armut leben, mit gesonderten Förderprogrammen und Unterstützungsangeboten. Kinder bei denen der Präsenzunterricht bzw. die Betreuung aus familiären, sozioökonomischen, pädagogischen oder sprachlichen Gründen geboten ist, sollten weiterhin vorrangig in die Notbetreuung aufgenommen werden.
Diese Pandemie ist für alle belastend. Aber Jammern ist das eine, an Lösungen arbeiten das andere: Statt planloser Forderungen nach Öffnungen, die am Ende vor allem die Pandemie verlängern werden, schlage ich der Stadt Nürnberg vor, durchdachte pädagogische Konzepte für ein sicheres Distanzlernen einzuführen.
Dazu gehören:
Die Stadt unterstützt Partnerschaften, so dass zur besseren Vereinbarkeit von Homeschooling und Beruf sich Eltern durch die Bildung von Familienpartnerschaften gegenseitig unterstützen und ggf. auch Betreuungslücken abdecken können.
Die Stadt bietet zusätzliche Lernarbeitsplätze in leerstehenden Räumlichkeiten wie z. B. in Kirchengemeinden, Bibliotheken und Hotels (mit einem Arbeitsplatz pro Raum) an. Diese können von Kindern und Jugendlichen genutzt werden, denen zuhause die Möglichkeit zum ruhigen Lernen oder die technische Ausstattung zum lernen im Distanzunterricht fehlt. Die üblichen Hygiene- und Abstandsregeln werden durch Schnelltests ergänzt.
Die Stadt unterstützt die Einrichtungen beim Aufbau von effektivem Distanzunterricht: Um den Distanzunterricht effektiver zu gestalten, wird dieser nach evidenzbasierten Kriterien digitalen Lernens strukturiert und mit sozialen und emotionalen Komponenten ergänzt. Hierzu zählen: Zeitliche Rhythmisierung, eigener Lernraum, kognitive Aktivierung, soziale Einbindung, Feedback geben und Feedback holen, sowie die Aktivierung selbst regulierter Lernprozesse.
Die Stadt Nürnberg verpflichtet die Schulleitungen „interaktive“ digitale Schule in Unterrichtsform zu ermöglichen (das bloße Zusenden von Aufgaben ohne weitere Besprechung ist kein Unterricht!).
Die Stadt Nürnberg schafft ein attraktives Angebot für die Lehrerinnen und Lehrer, damit sich diese in digitalen Unterrichtsformen kontinuierlich weiterbilden können.
Einschränkungen in der Schule und der pädagogischen Betreuung wirken sich insbesondere nachteilig auf die Arbeitsmarkt- und Bildungschancen von Schüler*innen und Jugendlichen aus stark benachteiligten Verhältnissen aus. Die Stadt Nürnberg sollte daher Mentoring-Programm als flankierende Maßnahme zur Unterstützung von Schüler*innen aus benachteiligten Verhältnissen einsetzen.
Sollten die Schüler*innen zurück an die Schulen kommen, sorgt die Stadt Nürnberg für eine technische Ausstattung der Schulen mit Luftfiltern und CO2-Ampeln in allen Klassenräumen.
Beschulung in Präsenz findet nur dann statt, wenn die AHA+L Regeln durchgängig eingehalten werden können und die Inzidenzlage dies zulässt.
Die Stadt Nürnberg überprüft diese Regelungen zudem darauf, ob aufgrund der nun dominanten britischen Virusvariante B1.1.7 einzelne Regelungen zu Abständen, Lüftungspausen und gemeinsamer Zeit in Innenräumen an die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst werden müssen.
Die Stadt Nürnberg fordere ich auf mit großer Vorsicht zu agieren und beispielsweise keinen Präsenzunterricht in Grundschulen durchzuführen, bei dem auf die wissenschaftliche empfohlenen Abstände verzichtet wird, solange die Inzidenz in der Stadt und in der Altersgruppe der Grundschulkinder nicht unter den Wert von 35 sinkt.
Selgitus
Nürnberg hat die Pandemie bisher von den deutschen Großstädten am schlechtesten gemeistert. Fast während der ganzen 2. Welle war die Inzidenz in der Stadt höher, als in jeder anderen deutschen Großstadt mit über 500.000 Einwohner*innen.
Jetzt steigen die Fallzahlen wieder deutlich an. In der Stadt Nürnberg vor allem in den Altersgruppen der Kindern, die auch in der KW10 in der Stadt wieder die höchsten Inzidenzen aller Altersgruppen aufweisen. Die Inzidenz bei Grundschulkindern beträgt in KW10 bereits mindestens 196.
Die Experten sind sich einig, einen sicheren Präsenzunterricht für Kinder kann es bei dieser Ausgangslage nicht geben. Dieser wäre nicht nur vom ständigen Lüften unterbrochen, auch tagelange Unterbrechungen durch Quarantäne gehören dann zu den Belastungen, die wir unseren Kindern aufbürden, verbunden mit der ständigen Angst der Kinder, dass sie ihre Eltern oder Großeltern mit dem Virus anstecken oder dass sie selbst schwer erkranken.
Vertrauen wir auf die Wissenschaft: Leitbild für die sichere Beschulung sollte daher ein Konzept einer Toolbox sein, um gleichermaßen den Schutz von Bildung und Gesundheit in der Corona-Pandemie zu gewährleisten:
https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_bildung.pdf
Hier einige Auszüge:
Auch wenn das Risiko schwerer Krankheitsverläufe und langfristiger Folgeschäden einer COVID-19 Erkrankung bei jungen Menschen statistisch geringer ist als bei älteren Menschen, kommen sowohl schwere Verläufe (z. B. das multisystemische inflammatorische Syndrom, MIS-C) als auch längerfristige Gesundheitsfolgen (so genanntes Long Covid) bei Kindern und jungen Menschen vor (Davis et al, The Lancet Child & Adolescent Health 2020). Zudem gibt es viele Kinder und Jugendliche, die aufgrund von Vorerkrankungen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen selbst ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf tragen oder die mit Personen zusammenleben, die einer vulnerablen Risikogruppe angehören (z. B. Geschwister, Eltern, Großeltern). Öffnen Kitas und Schulen bei hohem Infektionsgeschehen und ohne ausreichende Maßnahmen des Gesundheitsschutzes, kann dies zu vermehrten Krankheitsfällen in den Einrichtungen sowie großflächigen und wiederkehrenden Quarantänisierungen führen: Jede infizierte Person schickt ein Vielfaches an Kindern und Erwachsenen in Quarantäne. Quarantänemaßnahmen können Familien stärker belasten als strukturierte, planbare Lockdowns (Prati et al, Psychological Medicine 2021; Schlack et al, J. Health Monitoring 2020; Graber et al, Child Care Health Development 2020; Henseler et al, Eur. Arch. Psychiatry Clin. Neuroscience 2020). Fast 30% aller Quarantänen mit Kindern verlaufen kritisch. Weil sie plötzlich verhängt werden und verhältnismäßig lange dauern, können Quarantänemaßnahmen auch für die Wirtschaft negative Folgen haben.
Infektionsepidemiologisch spielen Schulen eine besondere Rolle, da Kinder und Jugendliche in der Schule Familiencluster verbinden. Schulen können dabei als Infektionsdrehkreuz fungieren, über das Infektionen in andere Familien und über diese in weitere berufliche und soziale Netzwerke gelangen. Aus verschiedenen Studien zur Analyse von Kontaktnetzwerken (Granovetter, American Journal of Sociology 1973; Karsai, et al., Nature Scientific Reports 2014; Nadini, et al., Nature Scientific Reports 2017) ist bekannt, dass selbst ein geringes Infektionsgeschehen innerhalb der Schulen das Infektionsgeschehen außerhalb der Schulen verstärkt (“Strength-of-Weak-Ties-Effekt”) – Schulen können deshalb indirekt zu verteilten Superspreading-Ereignissen führen (Stopczynski, PLoSONE 2014; Stehle, PLoSONE 2011). Diese Effekte werden durch die speziellen strukturellen Eigenschaften der Kontaktnetzwerke zwischen Schule und Familien erklärt (Maier et al., Journal of Complex Networks 2019) und können nicht allein aus kontextbasierten Inzidenzwerten abgeleitet werden.
Der größtmögliche Schutz der Gesundheit von Kindern, Familien und des Personals der Bildungseinrichtungen ist daher auch in Nürnberg unbedingt anzustreben.